HalloHerrMueller

My virtual moleskine - Weblog von Michael Müller

Home » blogdings » Warten ist das halbe Leben

Warten ist das halbe Leben

Von micha     09.03.04 22:38

Die ein oder andere Studie lässt uns unliebsam erwachen, wenn es da heisst, man verschlafe sein drittel oder halbes Leben. Nun gut, Schlaf muss sein. Über die Quantität soll jeder selbst entscheiden.

Wie verhält es sich jedoch mit dem Warten? Wieviele Minuten warte ich täglich auf etwas oder jemanden und wieviel dieser Wartezeit kann ich für mich sinnvoll nutzen? Meine Wartezeit auf dem Bahnsteig Tiergarten wurde jedenfalls nett durch einen laaaangsaaamen Fahrstuhl versüßt.

Dieser Fahrstuhl befindet sich direkt hinter der Treppe zum Ausgang und ist groß genug für Fahrräder, Rollstühle und Kinderwagen. Unabhängig davon kann man ihn auch pur genießen. So tat dies auch ein Mann, der gerade aus der S-Bahn gestiegen war.

Er drückte den Knopf und der Lift setzte sich in Bewegung. Während des Hochfahrens kann man als Wartender die Fortschrittsanzeige direkt hinter dem Plexiglas ablesen. Räder drehen sich, Kabel werden länger, irgendwas bewegt sich nach unten, während die Kabine selbst nach oben gleitet. Das dauert zwar einen Moment, erscheint einem jedoch nicht so lang, weil man die Veränderung beobachten kann.

Anders sieht es aus, wenn die Kabine angekommen ist, sich die Tür aber nicht sofort öffnet. Der Lift ist da und man kann nicht rein. Fünf Sekunden können da extrem lang werden. In dieser Zeit trafen sich unsere Blicke. Er ist völlig nonchalant und ich überlege amüsiert, wieviel Sekunden ich für die Treppe gebraucht hätte.

Inzwischen sehe ich meine Bahn vom Zoo losfahren. Sie ist mein Fortschrittsbalken. Die Tür vom Fahrstuhl hingegen hat sich endlich erbarmt und geöffnet. Der Mann steigt ein und drückt schnell die Taste, die ihn nach unten bringen soll. Die Schnelligkeit erscheint so grotesk, da überhaupt nichts nach dem super rasanten Tastendruck passiert. Fünf Sekunden lang nichts. Diese Zeit reicht, um ein Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern. Herrlich! Ein bisschen Spott ist auch dabei.

Während mein Zug gerade einfährt, bewegt sich der Fahrstuhl nach unten. Der Mann darin atmet entspannt aus und schwebt hinab. Ich gönne mir einen Augenblick die Vorstellung, wie der Fahrstuhl unten angekommen, fünf Sekunden lang die Tür nicht freigibt.

Ich steige in meine Bahn und realisiere, dass ich gerade Zeuge einer wunderbaren und realen Metapher geworden bin. Dieser Mann konnte in seinem Glaskasten das Leben an sich vorüberziehen sehen, während er wartete.

an den Anfang

Artikel kommentieren